Passend zum Beitrag "(Schwer)behindert" hat Jens sich Gedanken gemacht.
Er hat mir erlaubt, seinen Facebookeintrag hier wiederzugeben. Dafür herzlichen Dank.
"Hinweis zur Einleitung nur für die, die mich nicht kennen, ich habe eine spinale Muskelatrophie und sitze im Rollstuhl (nur für den Fall, dass dieser Beitrag geteilt wird und die Leute mich dann eben nicht kennen)
Irgendwas ist in den letzten 25 bis 30 Jahren sprachlich mächtig schief gelaufen.
Als ich in den späten 70er Jahren erstmals das heutige Lichtenberg Gymnasium in Cuxhaven betrat und mich mühsam die steile Eingangstreppe raufschlurfte, kam der Hausmeister Meiners aus seinem kleinen Glaskasten und erkundigte sich, ob ich draussen gestürzt sei - meine Antwort war für mich damals normal "Nein ich habe eine Körperbehinderung, eine Muskelschwäche, ich kann schlecht Treppensteigen, nicht schnell rennen und nicht schwer heben." Er nahm es zur Kenntnis, sorgte aber insgeheim mit dem Lehrerkollegium dafür, dass ich in jeder Pause drinnen blieb (durfte damals eigentlich nur die Sekundarstufe 2) bzw. unsere Klasse den Unterrichtstrakt für Naturwissenschaften oder Kunst nicht in den kleinen Pausen erreichen musste. Wir haben immer für diese "Wanderung" quer durch die Schule, die grossen Pausen nutzen können.
Selbe Zeit - also Ende der 70er, gleiche Schule andere Treppe, auf dem Weg zum Klassenzimmer erste Stunde. Spricht mich auf der Treppe ein anderer Junge an, ebenfalls neugierig, warum ich so langsam sei, er bekam die selbe Antwort wie der Hausmeister "Ich habe eine Körperbehinderung" "Oh was denn?" "Muskelschwäche, ich kann schlecht Treppensteigen, nicht schnell rennen, nicht schwer heben." "Gib mal deinen Ranzen"... Der Typ ist heute noch in meiner Freundesliste.
Was ist jetzt also in den letzten 25 bis 30 Jahren schief gelaufen?
Schleichender sprachlicher Verfall würde ich es nennen, das Wort "behindert" wurde immer negativer besetzt. Vermutlich - wie es bei der Umgangssprache immer ist - haben einige Jugendliche mit sparsam ausgebauten Obergeschoss in einer Bierlaune, die letzte geistige Glanzleistung eines Bekannten, vielleicht ist er bei einer Klettereinlage vom Zug gefallen, mit den launigen Worten "Würde ich nie machen ich bin doch nicht behindert" kommentiert. Liebe Leute lasst Euch sagen - nahezu 100% aller Behinderten würden es ebenfalls nicht machen, der eine Teil ist körperlich dazu nicht in der Lage oder schlichtweg nicht so strunzdoof wie euer vom Zug gefallener Kollege. Nützt aber nichts, denn eine Situation, eine Aktion, einen Film, ein Buch etc. als behindert zu bezeichnen wurde salonfähig. Zumindest weitestgehend. Nicht im direkten sozialen Umfeld von Behinderten, aber drum herum. Meine Freunde würden vermutlich niemals auf die Idee kommen eines der oben genannten Ereignisse als behindert zu bezeichnen, sie assoziieren behindert mit mir und sie würden mich vermutlich eher selten gedanklich mit einem schlechten Buch, oder einem vom Zug gefallenen Surfer in Verbindung bringen. Aber eine ganze Generation hat es geschafft, behindert ist schlichtweg etwas schlechtes unausprechliches, sozusagen der Lord Voldemort der köperlichen oder geistigen Einschränkungen, jeder kennt es aber keiner will es aussprechen.
Aber, ein aber gibts ja immer, aber keine Generation ist davor (zumindest nach dem heutigen Stand der Medizin) gefeit, dass es Eltern gibt, deren Kind oder Kinder behindert zur Welt kommen. So bekommt jetzt die Generation, die eben noch behindert als negativ besetzt salonfähig gemacht hat, teilweise behinderte Kinder.
Nun ist doch aber behindert das böse b-Wort. Was tun sprach Zeus? Teile dieser Eltern, also aus der Generation, die behindert mit als böse und schlecht etabliert haben, verfallen auf einen Trick - sie greifen sich ein Adverb um die Situation und ihr Kind zu beschreiben - besonders. Nicht, das etwa grob geschätzt 100% aller Eltern ihr Kind für etwas ganz besonderes halten, besonders wohl geraten, besonders niedlich, besonders süss, man kann diese Aufzählung nahezu endlos fortsetzen. Zumindest ist mir kein Fall bekannt in dem es auf der Neugeborenen Station zu folgender Aussage kam
Vater zur Mutter: "Glückwunsch zur Geburt mein Schatz, noch zwei davon und wir können uns mit einer Geisterbahn selbstständig machen!"
Nein alle Kinder sind etwas besonderes.
Für das Kind ändert es zunächst einmal gar nichts, ob ich jetzt nicht auf den Baum klettern kann, weil ich behindert bin oder weil ich besonders bin. Bin ich behindert und komm deshalb nicht auf den Baum, so ist behindert sein gelinde gesagt Scheisse und wenn ich nicht auf den Baum kann, weil ich besonders bin, dann ist besonders sein Scheisse. Später wird es schon schwieriger, nehmen wir mal meine Geschichte von vorhin, die aus den späten 70er Jahren, ich möchte nicht wissen, was mir der Hausmeister oder mein Freund auf der Treppe erzählt hätten, wenn ich ihnen gesagt hätte "Ich bin so langsam weil ich besonders bin." Wohlgemerkt besonders ist ein Adverb - da wird im Sprachgebrauch sehr flott ein "er hält sich für etwas besonderes" draus. Einem behinderten Mitschüler springt in jeder Altersstufe ein/e Mitschüler/in helfend zur Seite, wenn die "Halbstarken" es mal wieder übertreiben, bei einem "besonderen" ich weiss nicht. Dafür wird besonders noch nicht stark genug mit behindert in Verbindung gebracht.
Wie schaffen diese Eltern eigentlich den geistigen Spagat? Zum einen ist das Kind nicht behindert, sondern besonders, zum anderen gibt es entsprechende Hilfe und Vergünstigungen aber nicht für besonders sondern für Behinderungen. Die Merkzeigen "G" und "aG" im Ausweis für SchwerBEHINDERTE (nicht SchwerBESONDERE) stehen für "G"=Gehbehindert und "aG"`=aussergewöhnlich Gehbehindert (und nicht Gehbesonders), obwohl eine Bezeichnung wie
schwer mehrfach besonders
einen gewissen morbiden Charme hat. Wie also schaffen das diese Eltern? Wie gehen sie sprachlich mit ihrem behinderten Kind um? Schafft es die Treppe nicht, weil es behindert ist, oder weil es besonders ist?
Ein Freund von mir sagt, anders sein ist toll, sicherlich ist behindert sein nicht das was er meint und so richtig toll ist es auch nicht, aber es ist auch nicht so schlimm wie es durch den allgemeinen Sprachgebrauch mittlerweile gemacht wird.
Es heisst so schön die Behinderung beginnt im Kopf, aber muss es im Kopf der Eltern sein? Liebe Eltern warum gebt ihr dem Druck von aussen nach warum macht ihr es für Euch und Eure Kinder so schwer? Natürlich ist es für Eltern nicht prickelnd, wenn das Kind behindert ist, zumal der Mensch dazu neigt zu vergleichen und wenn das eigene Kind mit 8 immer noch nicht richtig laufen kann ist es schwer zu verdauen. Da müsst ihr dran wachsen, verleugnen über "mein Kind ist eben besonders" hilft da wenig, mit der Zeit werdet ihr an diesem Spagat zerbrechen. Ich würde auch gerne noch laufen und Autofahren - aber lasst Euch eins sagen um die Welt und das Leben zu geniessen, muss man nicht laufen, oder Autofahren - die Welt nimmt man mit seinen zur Verfügung stehenden Sinnen wahr - Autofahren und laufen sind nur Ergänzungen oder Erleichterungen, aber nicht explizit notwendig zum Erleben der Welt.